Fortschr Neurol Psychiatr 2025; 93(07/08): 268-277
DOI: 10.1055/a-2066-0207
Originalarbeit

Berthold Kihn (1895–1964): Profil eines NS-„Euthanasie“-Täters

Berthold Kihn (1895–1964) and the NS “Euthanasia”: Profile of a Perpetrator
Birgit Braun
1   Universitätsklinikum Regensburg, Regensburg, Germany
,
Nikolaus Knoepffler
2   Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany
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Zusammenfassung

Einleitung In der Geschichtswissenschaft besteht noch immer kein vollständiger Konsens, wie sich der Übergang von eugenisch begründeter Sterilisationspraxis zur „Euthanasie“ interpretieren lässt. Ziel des vorliegenden Artikels ist es daher, dieser konkreten Fragestellung kritisch-historisch nachzugehen. Hierzu dient das Täterprofil Berthold Kihns, wobei vor allem hervorzuheben ist, dass sich Kihns Weg in den „Euthanasie“-„Abgrund“ ohne eine primäre eugenische Ausrichtung entwickelte.

Methoden Es erfolgte Literatur- und Archivstudium. Erstmalig wurden auch relevante fränkische und familienarchivarische Quellen einbezogen. Zudem wurden Dokumente des Universitätsarchivs Jena mit solchen der Konzentrationslager Buchenwald und Oranienburg verglichen.

Ergebnisse Nach beruflichen und privaten Dilemmata setzte der Neuroinfektiologe Kihn einen neuen pseudowissenschaftlichen Schwerpunkt hin zur „Ausschaltung der Minderwertigen aus der Gesellschaft“. Neben Kihns etwa seit der Jahrtausendwende zweifelsfrei wissenschaftlich belegter Rolle bei der zentralen „Euthanasie“ und der „Kinder-Euthanasie“ finden sich aktuell auch Hinweise auf seine Beteiligung an der dezentralen „Euthanasie“. Dies wird anhand des prominenten Patienten Felix von Papen aufgezeigt.

Diskussion Kihn gehörte weder zu den etablierten Rassenhygienikern noch zu den wissenschaftlich angesehenen Erbbiologen und Eugenikern. Karrierestrategisch sprang er auf eine sich abzeichnende staatspolitisch geförderte Bewegung auf. Hierfür mitverantwortlich mag seine berufliche sowie private Sackgassen-Situation gewesen sein.

Schluss Weiterführend vergleichende Profilerstellung von NS-„Euthanasie“-Tätern ist ein Forschungs-Desiderat. Sie kann dazu beitragen, der immer noch unzureichend geklärten Frage der Eugenik-„Entartung“ hin zur „Euthanasie“ differenzierter zu begegnen.

Abstract

Introduction In historical sciences, there is no consensus on how to understand the transition from eugenic sterilization to “euthanasia”. The aim of this article was to investigate this question based on the historical-critical method, using the example of the perpetrator profile of Berthold Kihn. His pseudoscientific way to “euthanasia”, however, did not have an eugenic foundation.

Methods Literature- and archival studies were carried out. For the first time, attention was paid to relevant Franconian and familial archival sources. Moreover, documents of the Jena University Archive were compared to those of the concentration camps of Buchenwald and Oranienburg.

Results After professional as well as private dilemma, the neuroinfectiologist Kihn set a focus on the “eradication of the inferiors“. Apart from Kihn’s role in central “euthanasia” and “childrens’ euthanasia”, which has been clearly demonstrated, we found actual hints of his additional involvement in decentral “euthanasia”. This is shown using the example of the prominent patient Felix von Papen.

Discussion Kihn was no racial hygienist, he did not make his mark as an eugenicist. His professional and private dilemma may – among other things – have motivated him, to join a politically promoted movement.

Conclusion Further comparative research in the profiling of NS perpetrators may contribute to a better differentiation of the transition from eugenics to “euthanasia”.



Publication History

Received: 09 June 2022

Accepted: 25 March 2023

Article published online:
23 October 2023

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